Ich steige in meinem kleinen weißen Wagen und ziehe den Choke. Draussen ist es kalt. Die Sonne scheint hell. Ein goldener Herbsttag. Kurz nach der Ortsausfahrt brauche ich den Choke nicht mehr. Mein Blick wandert über die Felder, die sich an die Landstraße schmiegen und vereinzelt mit einem Helmer1 um Aufmerksamkeit buhlen. Ich stelle mir vor, dass die weißen Wolken am Horizont Ausläufer eines massiven Gebirges sind. Doch das ist Quatsch. Ich drücke auf „Rewind“.
Der Blick reicht weit über das flache Land. An solchen Tagen sagt man bei uns gerne: „Du weißt bereits 3 Tage vorher, wenn du Besuch bekommst.“
Kurz nachdem ich die unter Denkmalschutz stehende Hubbrücke überquert habe, ist die Geschwindigkeitsbegrenzung der Landstraße aufgehoben. Die Kassette ist fertig zurückgespult und mein „Hightech-Autoradio“ beginnt automatisch abzuspielen. „Hey hey!“ Ich drehe schonmal lauter.
Es geht los. Mini-Schlagzeug-Intro, die beißende und wabernde Gitarre ist urplötzlich einfach da und saugt mich auf. Ich gebe Gas und beschleunige den kleinen weißen Wagen auf 120 KM/h. „What is it? Who is it? Where is it?“
Die wundervolle Melodie von „Little Fury Things“ setzt sich kurzfristig gegen den schreienden Gitarrensound durch und trägt J.’s Stimme hoch hinaus, so dass ich mir eine kleine pathetische Geste erlaube. Ich nehme die Hände kurz vom Lenkrad, halte sie links und rechts neben meinem Kopf nach oben hin offen geformt und richte auch meinen Blick gen Himmel. Als ich wieder in korrekter Fahrposition sitze und lauthals mitsinge, meine ich links von mir auf dem Feld ein Kaninchen zu sehen. Ein Grinsen drängelt sich vorlaut in mein Gesicht und ein Gänsehautschub durchfährt meinen Körper.
Jahre später übernahm ich beim c/o pop Festival in Köln einen kleinen Job. Ich war für die Ausgabe der Musiker-Akkreditierungen verantwortlich. An meinem kleinen Stand in der Hotel-Lobby wartete ich auf die anreisenden Künstler, händigte ihnen ihre Backstagepässe aus, informierte sie über den Zeitplan, den Transport zum Festivalgelände und alles weitere, was sie wissen wollten. So sprach ich mit Annie, Arcade Fire, The Go! Team, Hard-Fi, Hot Hot Heat, Maxïmo Park, Tomte, uva.
„Die gesamte Besatzung hatte den Bus verlassen und sich auf der angrenzenden Wiese im besten Hippie-Picknick-Stil niedergelassen.“
Besonders aufgeregt war ich allerdings ob der Tatsache, dass Dinosaur Jr. zum ersten Mal seit Jahren in Originalbesetzung in Deutschland auftreten würden und natürlich vorher bei mir ihre Akkreditierungen abholen würden. Doch sie kamen nicht. Gerüchten zu Folge war ihr Nightliner aber bereits gesichtet worden. Ich begab mich auf die Suche und tatsächlich stand auf dem Hotelparkplatz hinter dem Haus ein gänzlich schwarzer Bus. Ich klopfte an, aber es regte sich nichts. Doch es musste das Vehikel von Dinosaur Jr. sein, sonst hatten sich bereits alle Acts gemeldet.
Fortan überprüfte ich etwa alle 20 Minuten, ob sich am Bus etwas tat, schließlich nahte ihr Auftritt. Und irgendwann war es dann soweit. Die gesamte Besatzung hatte den Bus verlassen und sich auf der angrenzenden Wiese im besten Hippie-Picknick-Stil niedergelassen. Das Wetter war schön. Es war Sommer und die Szenerie sah so gemütlich aus, dass ich kaum zu stören wagte.
Letztendlich betrat ein junger, deutsch sprechender Mann die Lobby, der wie eine frische Kopie von J. Mascis aussah. Er holte die Akkreditierungen für die gesamte Band ab und ich erfuhr, dass er bereits die gesamte Tour mit ihnen unterwegs sei. Er mache einen Film über Dinosaur Jr. und komme ursprünglich aus Norddeutschland.
Zögerlich blickte er sich zu mir um und entgegnete mir ein nichtssagendes und unbeteiligtes: „Mhhngg!“ Dann fotografierte er das Nashorn noch von den verbleibenden Seiten und verschwand klammheimlich wieder aus der Lobby.
So sah meine persönliche Begegnung mit Dinosaur Jr. aus. Das Konzert am Abend verpasste ich. Doch mir blieb die wunderbare Erkenntnis, dass eine herrliche musikalische Entrücktheit auch immer mit den Musikern selbst in Verbindung steht.
Bis heute kann ich dem Weg häufig mehr abgewinnen, als dem Ziel.
You´re Living All Over Me ist wahrscheinlich die Scheibe in meinem Plattenschrank, die ich am häufigsten von allen gehört habe. Ich habe sie mir sogar selbst drei- oder viermal fürs Auto auf Kassette aufgenommen. Immer wieder, wenn das Autoradio Bandsalat verursacht hatte. Annähernd jeder Titel auf dem Album war mal eine Zeit lang mein Lieblingssong. Little Fury Things, Kracked, Sludgefeast, The Lung, Raisins, Tarpit, In A Jar, Lose und selbst das strange-beängstigende Poledo erreicht bei mir volle Aufmerksamkeit. Vor allem, wenn ich das Album in einem Stück höre, wirkt es auf mich immer wie eine Reise. Ich habe es gerade erst ausprobiert!
Diese geile Scheibe gibt es bei:
iTunes Amazon YouTube PlaylistIch sitze im ICE nach Berlin. Bevor ich diesen Text schrieb, hörte ich mir You´re Living All Over Me in voller Länge an. Bei In A Jar muss ich kurz weggeschlummert sein, ich erinnere mich noch an den eingängigen Chorus, dann wurde ich bei Poledo recht unsanft vom Schaffner geweckt. Ich war durchaus ein wenig verwirrt – eben auf einer Reise.
„Bis heute kann ich dem Weg häufig mehr abgewinnen, als dem Ziel.“
Aber zurück auf die Landstraße. Ich bremse den kleinen weißen Wagen herunter, der Nachbarort ist erreicht. An der großen Kreuzung biege ich links ab Richtung Schwimmbad. Zone 30. In dem Momemt, in dem ich die Musik leiser drehe, wird mir erst bewusst, wie laut sie war. Heutzutage passt sich die Lautstärke serienmäßig der Geschwindigkeit an, sowas gab es damals aber noch nicht. Noch ein paar kleine Nebenstraßen, links, rechts, links, und dann parke ich hinter Arndts schrottigem Polo – seinem Pony. Ich starre auf die Kofferraumklappe, die mir schon so häufig auf den Kopf geknallt ist, weil sie nicht mehr aus eigener Kraft hält. Immer wenn ich etwas aus seinem Kofferraum hole, vergesse ich es wieder.
Ich klingele an der Tür, doch es macht niemand auf. Noch ein Versuch. Nichts.
So war das damals, vielleicht hatte ich vormittags gesagt, dass ich am nachmittag eventuell vorbeikomme, auf einen Kaffee oder so. Und dann hat man einfach geklingelt, ohne vorher per Mobiltelefon zu fragen, ohne erreichbar zu sein.
Also setze ich mich ohne genaues Ziel wieder in meinen Wagen, drücke die Skip/Forward-Taste an meinem „Hightech-Autoradio“ und starte den Motor. Das Tapedeck stoppt und spielt automatisch ab. The Lung. Wieder drängt sich ein Grinsen in mein Gesicht, ich blicke in den strahlend blauen Himmel, drehe lauter und fahre los. Erstmal los.
Dinosaur Jr. wird mich in meinem Leben nicht mehr loslassen. Die Songs von J. Mascis und Lou Barlow begleiten mich nun schon so lange. Und bis auf eine kurze Phase im Studium, als mich André des Hörens von Kindermusik beschuldigte und ich das wohl überprüfen musste, habe ich nie aufgehört, in unregelmäßig regelmäßigen Abständen Dinosaur Jr. zu hören. Für mich ist diese Scheibe ganz stark mit dem Gefühl des Unterwegs-seins verknüpft. Sound, Melodie und Gefühl kommen auf eine Art zusammen, die mit meinem Herzen etwas machen. Dann denke ich an lange Autofahrten, an Landstraßen, an Autobahnen, an Touren quer durch Europa und an nächtlich-nasse Highways in den USA. Bei „Little Fury Things“ bekomme ich spätestens nach der Textzeile „Tried to think what’s over me, it makes me crawl“ eine Gänsehaut. Anders gesagt: Ich verbinde mit „You´re Living All Over Me“ ein konkretes Freiheitsgefühl, dass irgendwie auch mit den Beatniks, der Beat Generation und Jack Kerouac zu tun hat.Paradoxerweise hat sich für mich mit der Zeit beim Hören dieser Scheibe gleichermaßen ein Nach-Hause-kommen-Gefühl entwickelt. „Willkommen unterwegs“!
1 Als Helmer (auch: Hellmer) werden vor allem in Gegenden an der Unterweser Verbindungswege zwischen Deich und Siedlung bezeichnet.
Ha ha, lustig.
Das sieht wirklich nach einer sehr interessanten Platte aus. Ich finde diese unbekannteren Künstler sollten viel mehr gepusht werden.
Beste Grüße,
Lena
Das finde ich auch, die jungen J. Mascis und Lou Barlow würden sich bestimmt über mehr Öffentlichkeit freuen! ?