Ein verhangener und verregneter Sonntag ging zu Ende. Der Kater ließ langsam nach. Ebenso das schlechte Gewissen. Die Wohnung war aufgeräumt. Die Partygäste, die über Nacht geblieben waren, fuhren grad im Auto davon. Sie hupten und winkten. Ich stand am Fenster. Durst und ein wenig Hunger überkam mich. Und der Wunsch nach frischer Luft. Ich schnappte mir Jacke, Mütze, Portemonnaie. Zog mir Schuhe an. Und ging hinaus. Die feuchte Luft erfüllte meine Lungen. Ich ging an der Lahn spazieren. Es war stockfinster. Bis ich unter das gelb leuchtende Dach schlüpfte.

Ein mechanisches Summen durchdrang die von Neonlicht erhellte Stille. Ich legte das Geld auf die schwarz-geriffelte Fläche am Eingang des schwarzen, dunklen Schlundes. Ruhig und besonnen schritt die traurige Gestalt durch den Raum, strich mit ihrem Zeigefinger im vorbeigehen über Regale und wußte, daß sie dabei beobachtet wurde. Wieder ertönte das Summen. Es ähnelte dem Summen in meinem Kopf bei Reizüberflutungen.
Ganz dicht über mir schwebte das rot leuchtende Firmament.
Ich Verließ und zerstörte das Firmament.
Und dann, unter freier Sternennacht, trieb ich in diesen Kanal, umsäumt von Bäumen, die mich an eine Allee erinnerten. Ich stellte mir Häuser vor, an denen ich vorüberging, und die Menschen, die darin lebten.
Da war etwas, was mich hinfortriß; Ein Ende.
Und ich floß, bis die lange dunkle Röhre in einen hell erleuchteten Raum überging, in dessen Mitte ein Brunnen plätscherte, und um ihn herum der altehrwürdige See, der… „Aber das war gestern!“, fiel mir ein.

„Ich wünschte mir einen Gott.“

Ich befand mich auf diesem Hügel, an dessen Fuße sich die ganze Welt angesiedelt hatte, auf die ich hinabsah, während ich mir einen Gott wünschte.
Und dann plötzlich, war der Hügel verschwunden und ich war wieder mittendrin.
Da war wieder das mechanische Summen aus der Vergangenheit, das immer dann erklingt, wenn man gerade einmal nicht denkt.
Doch es stammte nicht von dort, woher ich es vermutete.

Über mir schwebte ein riesiges, schwarzes Ding und schickte künstliche Tage auf die Erde. Geblendet blickte ich blinzelnd empor, und ich war erstaunt, wie mächtig diese bloße Erfindung der Realität doch war. Wie sie mich doch tatsächlich zu einem winzigkleinen, unbedeutenden Wesen machte, ohne großartig darum zu kämpfen. Verteilte Rollen.
Ich schnippte mit dem Finger.
Den hell erleuchteten Raum mit dem See hatte ich verlassen. Hinter mir klaffte ein greller Schein inmitten der Nacht und während ich mich immer weiter davon entfernte, verklang auch das Plätschern des Brunnens.
Tief war ich vorgedrungen, bis an eine Stelle, an der ich zuvor noch nie gewesen war. Ganz klar erschien mir alles, völlig wahr. Aber wie immer, währen diese Momente meistens nur ein Sekündchen.

„Tausende von Tropfen ließen meine Augen zu einer Lupe werden und
das Wirrwarr von Geräuschen paßte nicht in meine Ohren.“

Und ehe ich mich versah, war es auch schon nicht mehr so. Die Lichter der Stadt schweiften aus, glitten in viele dunkle Stellen hinein, die dunkel bleiben wollten. Tausende von Tropfen ließen meine Augen zu einer Lupe werden und das Wirrwarr von Geräuschen paßte nicht in meine Ohren.
Es summte. Doch es war nicht dieses mechanische Summen, denn ich dachte ja. Es war vielmehr ein Rauschen. Ein Rauschen aus dem Radio, – obwohl ich nirgendwo eines sah – das man hört, wenn der Sender nicht richtig eingestellt ist.
Es war der Schnee, der sanft die eisige Luft durchtrennte, und ich spürte, wie mir die scharfen Kanten in die Lunge stachen. Ich fiel zu Boden, doch erreichte ihn nie. Es war ein freier Fall. Und als ich wieder zu Bewußtsein gelangte, bemerkte ich die völlige, schwarze Leere um mich herum. Da war kein Wind, den ich spürte, keine Richtung, in die ich mich bewegte, und auch kein Geräusch. Kurz stellte ich mir vor, es sei die Innenansicht eines Sarges, doch schnell verwarf ich dieses Bild wieder, denn plötzlich näherte sich ein weißer Fleck, der sich kurz darauf als ein Loch im Schwarz entpuppte. Wir trafen uns.
Und als ich zurück zur Leere schaute, war da ein riesiges Gesicht; Auf Sinnesorgane reduziert, ungeschlechtlich. Unter dem linken Auge hing eine dicke weiße Träne, aus der ich gefallen war. Ich landete auf Watte. Die Sonne schien.
Mich umgab eine sagenhafte Hügellandschaft und aus der Nähe vernahm ich ein Summen. Nein, es war wieder kein Summen, es war wieder Rauschen. Meeresrauschen.
Mein Weg führte mich über saftig grüne Wiesen und an grandiosen Steilküsten vorbei, bis ich auf eine Siedlung am Rande eines Hügels traf. Dieser Hügel schien im besonderen Interesse der Sonne zu stehen.


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Ich erklomm den Hügel und blickte hinab…
Mechanisches Summen.
Es hatte keine Zeit mehr.
Ich fror. Dieses Ding schluckte die ganze Sonne.
Als sie weg war, kam langsam etwas von diesem Ding zu mir hinunter. Es war ein langer schwarzer Schlund. Ich hielt ihn an der schwarz-geriffelten Fläche fest und schaute hinein.
Da war alles. Alles, was ich bisher gesehen hatte, alles, was ich bisher nicht sehen konnte, und alles, was ich noch sehen könnte.
Ich war das Firmament – das rot leuchtende, das zerstörte, das schwarze.

„Das Warten auf das Auftauchen!“

Diesen Blick lang war ich alles, auch der verschwundene Hügel.
Und ich verstand das Summen. Es war das gleiche Summen wie am Nachtschalter.
Ich entnahm Cola, Zigaretten und Snickers. Ging nach Hause. Überlegte vorm Plattenregal. Und entschied mich für Jean-Michel Jarre. Waiting For Cousteau. Seite B. Das erschien mir passend. Mal wieder.

 

1996: Ambient-Frühstück in Marburg.

 

Nachtrag:
Die Geschichte stammt aus dem Jahr 1996. Ich studierte damals in Marburg. Aber eigentlich lernte ich hauptsächlich mich selbst kennen. Ich erforschte mein Inneres und glich es mit Banalitäten ab. Ein grundlegendes Muster, dass in meinem Leben immer wiederkehren sollte  – die Posie in den einfachen Dingen erkennen.
Passend zu dieser Kurzgeschichte vom Besuch an der Nachttanke, möchte ich noch die Gedichtreihe „Fensterblicke“ veröffentlichen, die aus der Nacht des vorherigen Samstags stammt. Ich hatte mich auf unserer eigenen WG-Party in mein Zimmer zurückgezogen. Perspektivwechsel. Dachte ich. Und ich versuchte verschieden Blickwinkel festzuhalten.
Das große verbindende Element: Jean-Michel Jarre. Waiting for Cousteau. Ich hörte die Platte, als ich mich auf der Party alleine in mein Zimmer zurückzog und als ich von meinem Ausflug zur Nachttanke wieder nach Hause zurückkehrte. Dabei war die Platte nur ein komischer Interessenkauf, was macht dieser große Jean-Michel Jarre so für Musik. Ich wollte es einfach nur wissen, dabei hat sich das Stück „Waiting For Cousteau“ tief in mein Leben eingearbeitet. Ich denke, weil es so viel Raum für Gedanken läßt und weil es mich irgendwie erreicht hat und noch immer erreicht.
Das Warten auf das Auftauchen!

 

 

 

___

Fensterblicke I
(Tür mit Fenster)

Vor den Augen, vor Gesicht, Körper und Geist; eine Tür.
Milchiges Glas; Schweres Holz.
Unschlüssiger Wille.
Und verschwommen tanzen dahinter Gestalten.
Stimmen dringen dumpf hindurch; Matte Musik, wild.
Das Standbein wechselt;
und wieder.
Ein Blick zurück in den hellen Raum;
Klankulisse – Jarre.
Ein verhuschendes Lächeln; Trockene, feuchtwerdende Träne.
Und jetzt ist es soweit…
Noch einmal Standbeinwechsel; Das letzte Mal!
Doch dann noch einmal.
…aber dann, noch einmal.

___

Fensterblicke II
(Tür mit Fenster hinterrücks)

In der Vision durch die Tür.
Eine Party; Lachende Menschen; Wolfsparadies.
Drogen, Drogen, Drogen.
Mein Herz, so warm
vom Schlagen
und vom Baden im tanzenden Meer.
Pragmatik-Sex; Illusion;
milchiges Glas.

___

Fensterblicke III
(Tür mit Fenster verdunkelt)

Oder vielleicht ein Tuch vor das Fenster.
Zurücktreten, schweres Holz am Scharnier verlassen.
Gardinen schließen und Volume erhöhen.
Keine Party mehr hören, Drogen missbrauchen
und sich in den eigenen Hass verlieben.

___

Fensterblicke IV
(Fenster zur Straße, Blick nach oben links)

Schirmmützenbau
Himmel sonst nichts.

Durchs Fenster vorbei
am Radio sonst nichts.

Leuchtbunter Rahmen darum innen
Stille sonst nichts.

Stunden verinnen
Stimmengerinnen
im Kopf
sonst nichts.

___

Fensterblicke V
(Fenster zur Straße, genereller Blick)

Ein früher Wind des Todes
durch die stehende Luft.
Flügelschlag eines Vogels
Schmerzensbrise; Duft.

Ein Geruch der langen Zeit
bettet sich um mich herum
und erzählt von gar nicht weit,
doch zögert noch; ist stumm.

Nach dem Wahn, verstört,
blick ich in die Nacht.
Wenn mich wer erhört:
„Nimm von mir die Macht!“

Doch des Fensters Glas
schluckt den Ton.
Mir dämmert was,
ach, ich wusst´ es schon.

Was ich hinfort wünsch
ist mir nicht fremd.
Es ist in mir Mensch,
der mich gut kennt.

___

Fensterblicke VI
(Fenster zur Straße, Blick auf die Frankfurter Straße)

Schon seit einem Jahr
wackelt dort oben im Wind
ein schwarzer Schal.

Es ist mir so,
als hielte der Stadtbaum
eine Fahne hoch als Wort.

___

*Ich habe auf der Platte übrigens niemals die Stücke Calypso 1-3 gehört, immer nur Waiting for Cousteau. Und unverständlicherweise ist die digitale Version des Songs doppelt so lang wie die Version auf der Vinyl-LP.

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