Der Boden unter dem hohen Gras ist aufgeweicht vom vielen Regen. Der Hang ragt steil in den Himmel und nimmt mir die Sicht auf den Horizont. Von irgendwoher höre ich Musik. Schöne Musik. Von oben. Ich wuchte meine klammen Füße beharrlich in die matschige Erde. Immer wieder. Kraftvoll. Schritt für Schritt. Samt pitschnasser Schuhe. Wie auf einer endlosen Treppe. Langsam gewinne ich an Höhe. Auf einem kleinen Felsvorsprung mache ich Pause. Verschnaufend und innehaltend wende ich mich gen Tal. Meine Augen verfolgen den Fluss, der sich wie eine Ader durch die Tiefebene schlängelt. Bis hin zu einem Haus, das mit bloßem Auge kaum mehr zu erkennen ist. Von dort war ich am Morgen gestartet.
Oben angekommen, stelle ich die Einkaufstüten auf meine neue Ikea-Spüle, gehe ins Wohnzimmer und mache Musik an. Insgeheim unterziehe ich meine neue Wohnung einem Gebrauchs- und Stiltest. Mein selbstgebautes DJ-Pult gefällt mir gut. Es bringt etwas lässigen Flair hinein. Die Ecke, in der einst der Kachelofen zum Heizen der gesamten Räume stand, gefällt mir gar nicht. Dort ist einfach eine betonierte Fläche geblieben. Total hässlich. Aber wer jemals in einem nicht renovierten Altbau gewohnt hat, kann sicher ein Lied davon singen. Das Fenster zum Innenhof gefällt mir wiederum gut. Frei zugänglich. Groß. Hell. Der Raum ist weitläufig. Das gefällt mir auch.
„Mit beiden Beinen fest im Slacker-Leben.“
Nach 4 Wohngemeinschaften fühle ich mich sehr erwachsen. Alleine wohnen. Es geschafft zu haben. Solche Gedanken schiessen mir durch den Kopf. Während über mir ein mächtiges Respekt-Pendel schwingt. 610 Euro Miete! Egal. Geht schon irgendwie. Das war mein heimliches Motto. Damals. Glaube ich. Jedenfalls muss es so gewesen sein. Wenn ich mich an die Unbekümmertheit erinnere, mit der ich von Tag zu Tag lebte. Andere nannten es Blauäugigkeit. Oder Naivität. Darunter verstand ich aber etwas anderes. Naiv waren andere. Ich stand mit beiden Beinen fest im Slacker-Leben. Das war meine feste Überzeugung. Und heute bin ich froh über meine Scheuklappen von damals. Konnte ich mir doch so ein kleines feines Leben in meinem Berlin-Cocoon unter Gleichgesinnten ermöglichen. Mich in einer Party-, Spaß- und Wir-nennen-es-Arbeit-Blase einnisten. Nach außen selbstbestimmt. Nach innen nach allen Regeln der Kunst ferngesteuert. Für eine gewisse Zeit jedenfalls.
Ich erkunde das neue Wohnzimmer weiter mit gestrengen Blicken. Suche nach Unebenheiten im Putz an den Wänden, nach Mängeln im Dielenboden oder Maler-Schlampereien am Stuck. Ich suche nach ungewöhnlichen Formen, die vielleicht skurrile Schattenspiele ergeben könnten? Oder nach mysteriösen Figuren und Formen, die durch das Übertünchen von abgeplatztem Lack entstehen? In einer anderen Wohnung, in der ich mal gewohnt haben würde, starrte ich auf der Toilette sitzend, immer auf eine Lackfigur an der Klotür. Gleich unterhalb der Türklinke — Elvis Presley mit Tolle und Schlaghosenanzug — Gäste taten sich zumeist schwer damit, ihn zu erkennen. Es gibt eben keine kollektive Fantasie! Denke ich.
Ich schaue aus verschiedenen Perspektiven. Vom Sofa. Vom Schreibtisch. Vom Fenster ins Zimmer. Von der Wohnzimmer-Tür aus. Von der Schlafzimmer-Tür aus. Momentaufnahmen. Stop-Motion. Ich stelle mir vor, wie mich Gäste in meiner Wohnung besuchen und wahrnehmen würden. Und ich komme zu dem Schluss — Ja. Immer hereinspaziert. Hier ists cool. Ich freue mich über Euren Besuch. Kommt alle her. Ich bin gerne Gastgeber. Das ist übrigens bis heute so geblieben. Ist sogar ein sozialer Hebel geworden, würde ich meinen.
„Etwas fehlt. Die Liebe.“
Dennoch schreite ich nachdenklich durch die Wohnung. Bleibe letztendlich auf meinem Bett im Schlafzimmer sitzen. Denke nach. Kippe zur Seite und starre liegend an die weiße Decke. Etwas fehlt. Die Liebe.
Klammheimlich hoffte ich, mit der neuen Wohnung, dem eigenständigeren Leben und der neu gewonnenen Freiheit auch dieses Thema in den Griff zu bekommen. Zu beruhigen. Denn hier herrschte Aufruhr. Die große Liebe war gegangen. Nachhallend. Neue Lieben wirkten riesig. Waren aber Mist. Kleine Lieben blieben klein. Und verschwanden. Manche bereute ich sogar. Ich dachte. Bloß nicht verkrampfen. In mir stieg ein schaumig-schimmliger Geschmack auf. Ich schüttelte mich absichtlich überschwänglich und unterlegte die Bewegungen noch mit einem lippenschlabbernden Geräusch. Bbippbippbippbippbibippbippbipp.
„Raus aus der Meta-Ebene und rein ins Leben!“, denke ich.
Ich springe auf und fasse einen Entschluss. Alleine ausgehen! Hatte ich noch nie gemacht. Also los. Halt dich ran. Warum nicht heute. Es ist Donnerstag. The New Friday. Wie man damals in Berlin zu sagen pflegte. Und eigentlich versuchte man damit nur zu legitimieren, dass man in der Lage war, jeden Wochentag zum Wochenende machen zu können. Man war flexibel. Immer. On demand. Sozusagen. Ich trage ein grünes Second Hand T-Shirt mit einem Kris-Kristofferson-Print und eine zu kleine abgewetzte Jeansjacke. Die Nacht ist lauwarm. Die Straßenbahn heiß. Viel zu voll. Ich betrachte den Boden und lausche den Gesprächen. In Fetzen gerissen. Poetisch. Banal. Die Casting-Allee runter. Über den Rosi und den Hackedichtmarkt. Zum ehemaligen Haupttelegrafenamt am Monbijoupark. Die Stimmung im 103 ist ausgelassen. Die Musik lässig. Die Luft stickig. Aber ich fühle mich gut. Und ich genieße die Einsamkeit inmitten der ganzen Party-People. Mit einem Bier in der Hand ergattere ich einen Sessel. Ich bin der Beobachter. An der Bar erkenne ich hin und wieder bekannte Gesichter. Ich sehe sie reden. Aber ich höre sie nicht. Discopantomime. Als der Sessel neben mir frei wird, nimmt ein hübsches Mädchen Platz. Wir kommen beide aus Oldenburg und Umgebung. Stellen wir fest. Und wir haben die gleiche Idee an diesem New Friday. Im 103. Alleine ausgehen.
„Wollen wir los?“, fragt sie.
„Du zahlst das Taxi!“ fügt sie noch an.
Die Sonne geht auf. Und die Erde geht unter. Kreuzberg. Der Blumenladen hat gerade erst aufgemacht. Ich will etwas Schönes kaufen. Einfach so. Mir ist danach. Ein dicker, fetter Blumenstrauß. Für 20 Euro. Ich suche die Farben aus. Blumen für mich? Ja. Genau. Blumen für mich. Auch neu. Premiere. Blumen sind sonst immer Geschenke. Meistens für Mädchen. Oder für Mütter. Und ich frage mich jedes Mal: Welche Sorte? Welche Farbe? Oder bunt? Und am Ende bleibt doch nur zu hoffen, dass sie gefallen. Heute nicht. Ich wähle für mich. Ganz allein. Am Morgen hatte ich mich sehr erschreckt gegeben. Nach dem Aufwachen. Ich gaukelte vor, ganz vergessen zu haben, zur Arbeit zu müssen. Jetzt komme ich zurück in meine neue Wohnung und stelle prächtige Blumen auf meinen kargen Küchentisch. Verrückt. Ich setze mich. Trinke Kaffee. Alleine. Und starre an die Decke. Wie am Vortag. Also alles wie immer. Alles gut. Es ist Freitag. Und ganz oben steht der Mond. Singt Rocko Schamoni.
Ein paar Monate später war Weihnachten. Der 24. Dezember endete im Metro. Oldenburgs Club für heimkehrende Großstädter. Wie so häufig in jenen Jahren damals. Die Stimmung war warmherzig. Viele bekannte Gesichter. Viele zu erzählende Geschichten. Ich kam gerade von der Bar. Da stand plötzlich das hübsche Mädchen direkt vor mir. Schöne Geschichte, dachte ich.
„Hey, kennen wir uns nicht irgendwo her?“, fragte ich sie, während ich angestrengt damit beschäftigt war, lässig zu wirken. Ich hatte kaum Zeit, mir über das Gesagte Gedanken zu machen. Doch geschnallt hatte ich schon. Es war unglaublich blöde. Und schon klatschte mir eine saftige und humorlose Ohrfeige ins Gesicht. Disch. Sie war gerechtfertigt. Finde ich. Heute. Und ich glaub auch damals.
„Als ich im Taxi sitze, klingelt mein Nokia 3300.“
Es ist mittlerweile Abend. Abend am eigentlichen Freitag der Woche. Good old Friday. Ich steige aus der Dusche. Über die Toilette hinweg. Eine halsbrecherische Installation meines Vormieters. Das Bad ist in deprimierendem bordeauxrot gestrichen. Komplett. Ich rasiere mich. Und rauche dabei. Im Wohnzimmer läuft laute Musik. In der Küche angele ich mir ein paar Mundfüllungen kalter Spaghetti aus dem Nudelsieb. Einige von ihnen sind bereits hart. Oder schon wieder? Das habe ich mich übrigens schon oft gefragt — Wenn ich eine gekochte Spaghetti-Nudel in eine spezielle, längliche, passgenaue Gussform legen und warten würde, bis sie hart ist, hätte sie dann wieder ihren Ausgangszustand? Könnte ich sie dann wieder in die Packung stecken, so dass niemand es merken würde? Egal. Ich ziehe mich an. Rufe mir ein Taxi. Und schnappe mir den Plattenkoffer, den ich mir mal von Luke geliehen und ihm nie wieder zurückgegeben habe. Heute ist Lieblingsmusikabend im EKA. Vier oder fünf kleine Tische. Ein paar Thekenplätze. Größer ist der Laden nicht. Aber dafür steckt viel Liebe drinnen. Und deshalb komme ich auch immer wieder gerne mit meinen Lieblingsplatten hierher.
Als ich im Taxi sitze, klingelt mein Nokia 3300. Golo. Ob ich schon da wäre? Er nämlich noch nicht und er würde sich auch voraussichtlich ein wenig verspäten. Mein Taxi biegt bereits in die Dunckerstraße ein und ich erwidere, dass das absolut kein Ding wäre. Ich würde schonmal alles aufbauen und ein Bierchen mit George trinken. Gesagt, getan. Vorher gehe ich aber noch kurz Zigaretten kaufen. Und etwas überprüfen. Es geht ein Gerücht um. Ein Zwillingspaar spielt mit durstigen und Wegbier-kaufwilligen Prenzl’bergern das Hase-und-Igel-Spiel. Mit zwei Kiosken. In der Stargarder Straße. Im ersten kaufe ich rote Gauloises. Als ich in den zweiten Kiosk komme, bin ich verblüfft und verwirrt. Da steht tatsächlich der gleiche Typ und sagt genauso freundlich „Hey“ zu mir. Wie der andere. Déjà-vu.
„Einmal rote Gauloises, bitte!“, sage ich. Was sonst hätte ich sagen sollen.
Ich hatte Golo ein paar Tage zuvor gefragt, ob er mit mir zusammen auflegen wolle. Er sagte zu. Und der Abend ist ein voller Erfolg. Ping-Pong. Immer abwechselnd. Jeder eine Platte. Es wird sogar getanzt. In diesem kleinen Laden. Wunderbar. Golo erzählt mir, dass er am nächsten Abend im Café Moskau auflegen würde. Seine Freundin und ihre beste Freundin feiern Geburtstag. Ob ich mit auflegen wolle. Klar. Nächste Platte. Schnaps. Und noch ein Bier. Zigarette. Und zum Abschluss noch ein Gin Tonic. Zigarette. Nächste Platte. Und noch ein Bier. Schnaps. Zigarette. Letzte Platte. Bier. Bier. Schnaps. Ein Song noch. Zigarette. Schnaps. Letztes Bier. Zigarette…
Der Samstag nach dem Good old Friday. Ein furchtbarer Morgen. Ein zäher Tag. Ich pendele permanent zwischen Kater, Liebeskummer, Erinnerungen an den Vorabend und an die Nacht davor, Vorfreude auf den kommenden Abend, Hunger, Kopfschmerz, Durst, weggedrückten Anrufen, wieder einschlafen, Gliederschmerzen, SMS erhalten und schreiben, Fernsehen und Musik. Es ist ein sehr heißer Tag. Die Fenster in den Hof stehen sperrangelweit offen. Als ich am späten Nachmittag zu den Plattenspielern schlurfe, traue ich meinen Augen kaum. Die Scheibe auf dem rechten Plattenteller hat sich vollkommen verbogen und nach oben gewölbt. Silver Jews — Bright Flight. Ich bin traurig. In solchen Momenten wird mir immer die Vergänglichkeit gewahr. Meine Liebe zu Dingen überwältigt mich, wenn ich feststelle, dass sie nicht ewig Teil meines Lebens bleiben können. Und dann bereue ich meine fahrlässige Aufmerksamkeit ihnen gegenüber. Wie groß war die Vorfreude doch damals beim Kauf der Platte. Wie ungeduldig der Weg nach Hause. Wie aufregend der Moment, in dem die Nadel zum ersten Mal auf dem unberührten Vinyl aufsetzte. Knacken. Sound! Und heute? Habe ich sie dort einfach so auf dem Plattenteller liegen lassen. Unbeachtet. Einsam geschmolzen. Ich mache mir Vorwürfe.
Die Sonne scheint — mächtig darauf geschienen zu haben. Egal. Am Abend haben wir uns dem Funk und Soul verschrieben. Also wäre die Platte sowieso nicht mitgekommen. Ich ärgere mich. Trotzdem. Bbippbippbippbippbibippbippbipp.
„The meter marks OK.“
Der Laden ist groß. Die Tanzfläche einladend. Das Equipment gut. Die Stimmung ausgelassen. Ich kenne niemanden. Bis auf Golo. Und seine Freundin. Sandra. Ein wenig jedenfalls. Unsere Getränke sind umsonst. Prost. Schmeckt schon wieder. Das Auflegen macht Spaß. Die Leute fangen an zu tanzen. Mir wird Christina vorgestellt. Die Co-Gastgeberin. Sie ist groß. Ein ebenso großer, gut aussehender Typ kommt zu Ihr. Gratuliert Ihr. Umarmt sie. Küsst sie. Auf den Mund. Sie lachen. Schade. Denke ich. Und gehe neue G&T’s holen. Für Golo und mich. Ich rauche Kette. Weil es Spaß macht. Ich habe ihr gar nicht zum Geburtstag gratuliert. „The meter marks OK“. Es dämmert. „The peak won’t cross the line“. Und doch heiratete ich sie einige Jahre später.
Meine Füße sind noch immer klamm. Vom morastigen Boden. Doch die Aussicht ist überwältigend. Von hier oben. Ich atme tief ein. Schließe die Augen. Ich denke an die Zukunft. Und die Vergangenheit. Schon komisch, was das Leben so für einen parat hält. Ein Pony geht an mir vorüber. Ein zweites bleibt vor mir stehen. Schnaufend. Mit bebenden Nüstern. Bbippbippbippbippbibippbippbipp. Es berührt mich. Ich öffne die Augen. Da ist wieder die schöne Musik. Sie kommt nicht mehr von oben. Sie ist überall. „And than you lied to me“.
Ich steige hinab ins Tal. 1000 Tränen tief. Und übernachte am River that only brings poison. Am nächsten Morgen werde ich von platschenden Geräuschen geweckt. Ein Braunbär fängt sein Lachsfrühstück im Fluß. Es ist Sonntag. Die Sonne scheint. Und bevor ich schmelze, mache ich mich auf. Ich mache mich auf, einen Berg zu erklimmen, von dessen Gipfel die Aussicht noch viel unbeschreiblicher und grandioser ist.