Ich war gerade mal 16 Jahre alt und stand voller Energie vor meinem Leben. Alles um mich herum war ein ständiges Abwägen, geprägt von elementaren Gegensätzen – Der großkotzige Gedanke, die Welt vollends zu verstehen, ohne mein Heimatdorf je verlassen zu haben. Das erhabene Gefühl, bereits erwachsen zu sein, aber noch in meinem Kinderzimmer mit orangefarbenen Flötotto-Möbeln zu leben. Die waghalsige Idee, wahre Liebe empfinden zu können, ohne je geliebt zu haben. Doch das alles war für mich noch nicht klar sichtbar.

Erst kurz zuvor hatte ich das Lesen von Büchern für mich entdeckt. Spät, ja, aber erklärbar spät. In meinem Elternhaus gab es neben Kochbüchern lediglich eine kleine Reihe Romane, von denen ich mich nur an Tom Clancy’s Jagd auf Roter Oktober erinnern kann.

Gänzlich ungelesen, praktisch wie neu, stand es da im Regal. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass jemals in diesem oder in einem der anderen Bücher gelesen oder wenigstens geblättert wurde. Keines der Bücher war auch je Gesprächsgegenstand. Tom Clancy tat mir ein wenig leid, doch als ich ein oder zwei Jahre später die Romanverfilmung von John McTiernan mit Sean Connery und Alec Baldwin im Fernsehen sah, hatte sich dieses Problem von ganz alleine gelöst. Ich fühlte mich nicht mehr verpflichtet, das Buch zu lesen.

Mich zog es in jener Zeit eher in die Geschichten von Hermann Hesse – Siddharta, Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund – oder in Bücher von Max Frisch, John Steinbeck, Albert Camus oder Jack Kerouac. Die Erfahrung, sich einfach ein Buch nehmen zu können, und mittels Geschriebenem auf unbestimmte Zeit in ein Paralleluniversum verschwinden zu können, war zwar nicht neu für mich – ich erinnere mich an einige fesselnde Kinder- und Jugendbücher – doch die Intensität von „echter“ Literatur war aufregend für mich. Während ich las, waren mir auch meine orangefarbenen „Kindermöbel“ egal.

Ohne es zu wissen, verknüpfte ich damals
Lesen und Galaxie 500 für immer miteinander.

Häufig freute ich mich schon auf dem Heimweg von der Schule aufs Lesen zu Hause. Denn während des Fahrens konnte ich bereits damals nicht lesen. Mir wird dann mulmig, übel, ich bekomme Schweißausbrüche oder Kopfschmerzen. Vor allem, wenn die Heimfahrt eine Busfahrt war. Als Schulbusse dienten damals ausgemusterte Linienbusse der Bremer Straßenbahn AG, in denen mir regelmäßig schlecht wurde. Eine einfache Fahrt bestand aus einer 20-km-über-Land-Fahrt mit vielen Kleinsthaltestellen. Das bedeutete häufiges Anhalten und wieder Anfahren, schunkelige, kurvenreiche und enge Straßen am Deich, miese Luft im Fahrgastraum und ein immenser Lautstärkepegel von anderen Schülern. Unter diesen Bedingungen konnte ich nicht Lesen. Binnen kürzester Zeit wäre mir mächtig unwohl geworden.

Hin und wieder ging es anderen im Bus ähnlich wie mir und sie übergaben sich, dann war das Horrorszenario komplett. Die fremde Kotze schwappte den Gang rauf und runter, wenn der Bus bremste oder beschleunigte. Und jedes Mal erreichte ein neuer Geruchsschwall meine Nase. Ich blickte paralysiert aus dem Fenster und versuchte mich von der Realität abzukoppeln. „Alles ist super! Juhu! Juchhe! Die Welt da draussen ist so schön! Mir geht es verdammt prima!“ Und alles nur, um diese Fahrt zu überstehen. Noch 6 Kilometer. Noch 5 Kilometer. Ein neuer Schwall. Noch 4 Kilometer. Noch 3 Kilometer. Und wieder dieser Geruch. Huarrghh. Noch 2 Kilometer. Noch 1 Kilometer. Dann endlich hatte ich es überstanden und entkam kurz vor knapp der rollenden Kotzhölle.
Draußen atmete ich tief durch und machte mich voller Vorfreude auf den kurzen Fußweg nach Hause. Dort verschwand ich sofort in meinem Zimmer, schnappte mir mein Buch und legte mich aufs Bett.

Liebebedürftiger Konfliktsucher mit Flaumbart

Doch die Situation war noch nicht perfekt. Etwas fehlte. Ich ging rüber zu meiner Nordmende-Kompaktanlage und machte Musik an. Aber nicht irgendwelche Musik – das mache ich übrigens nie, hey, hey! – ich machte This Is Our Music von Galaxie 500 an. Ganz instinktiv. Weil es die ruhigste Musik war, die ich kannte. Glaube ich. Wie hätte ich bei Gorilla Biscuits oder Bad Religion in Ruhe lesen können?
Erst ganz vorsichtig, dann immer bissiger werdend, schleicht sich die Rückkopplung in den Raum. Kurz bevor du leiser drehen willst, beginnt dich eine süße Melodie zu besänftigen. Fourth of July.
Ich sprang zurück aufs Bett und begann zu lesen. Jetzt passte alles. Ich war wunderbar ausgerüstet, um in eine Geschichte eintauchen zu können. Ohne es zu wissen, verknüpfte ich damals Lesen und Galaxie 500 für immer miteinander. Jedenfalls für mich.
Nananana Nananaaaahhh!

Diese Scheibe begleitete mich bei vielen Büchern und war in der Lage, meine kurzweilige Flucht aus der schnöden Welt eines heranwachsenden Jugendlichen zu vervollständigen – Liebebedürftiger Konfliktsucher mit Flaumbart. Ihre akustische Begleitung gab mir stets das Gefühl, nicht allein zu sein – ein Gefühl, das mich bis heute beim Lesen begleitet. Am liebsten würde ich großartige Passagen aus Büchern immer direkt jemandem vorlesen, um meiner Umwelt nichts vorzuenthalten. Dann steigt die Angst in mir auf, die Tragweite eines Satzes im nächsten Augenblick bereits wieder verloren zu haben. Ach Vergänglichkeit. So entsteht häufig der Wunsch, in Gesellschaft anderer Menschen zu lesen. Das wiederum birgt immer Ablenkungsgefahr, so dass ich im Endeffekt ein schlechter Leser geworden bin. Denn nur mit This Is Our Music lesen geht natürlich auf Dauer auch nicht.


Diese geile Scheibe gibt es bei:

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Der Opener Fourth of July ist toll. In distinguierter und poetischer Sprache reduziert Dean Wareham kuriose Situationen und macht daraus einfache Analogien. Großartig!
Bis zum heutigen Tag, dem Tag an dem ich diesen Artikel schreibe, ging ich fest davon aus, dass es in dem Song wie folgt heißt:

„And I decided to have a baby but I forgot to invite anybody.“

Doch ich musste mich eines besseren belehren lassen, denn es heißt darin wie folgt:

„And I decided to have a Bed-In but I forgot to invite anybody.“

 

"<a href="http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bed-In_for_Peace,_Amsterdam_1969_-_John_Lennon_%26_Yoko_Ono_17.jpg#mediaviewer/File:Bed-In_for_Peace,_Amsterdam_1969_-_John_Lennon_%26_Yoko_Ono_17.jpg">Bed-In for Peace, Amsterdam 1969 - John Lennon &amp; Yoko Ono 17</a>" by Nationaal Archief, Den Haag, Rijksfotoarchief: Fotocollectie Algemeen Nederlands Fotopersbureau (ANEFO), 1945-1989 - negatiefstroken zwart/wit, nummer toegang 2.24.01.05, bestanddeelnummer 922-2302 - <a rel="nofollow" class="external text" href="http://www.gahetna.nl/collectie/afbeeldingen/fotocollectie/zoeken/q/zoekterm/john%20yoko%20hilton/f/Serie_Collectie/Fotocollectie%20Anefo">Nationaal Archief</a>. Licensed under <a title="Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 nl" href="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en">CC BY-SA 3.0 nl</a> via <a href="//commons.wikimedia.org/wiki/">Wikimedia Commons</a>.
Bed-In for Peace, Amsterdam 1969 – John Lennon & Yoko Ono

So kann man sich irren. Mit Bed-Ins meint Dean Wareham vielleicht die friedlichen Bettdemos, die Yoko Ono und John Lennon 1969 in Amsterdam und Montreal inszenierten. Für den Weltfrieden, gegen den Krieg – einfach liegen bleiben! Für diese mögliche Anspielung würde auch sprechen, das sich mit Listen, The Snow Is Falling eine Coverversion eines Yoko Ono Songs auf dem Album befindet. Für mich übrigens mittlerweile jedes Jahr wieder ein wunderbares Weihnachtslied mit Stil.
Ganz nebenbei. Ich habe gerade vor ein paar Wochen den Film „Akte USA vs. John Lennon (The US. vs. John Lennon)“ – deutsch oder englisch – gesehen. Wen das Thema interessiert, der sollte sich den Film ansehen. Er hat mir einen völlig neuen Blickwinkel auf die Entwicklung John Lennons hin zum pazifistischen Friedensaktivisten und dem reaktionären Umgang mit Underground- und Popkultur der US-Regierung unter Richard Nixon und in der Allgegenwärtigkeit des Vietnamkriegs seiner Zeit gegeben. Give Peace A Chance hat eine viel komplexere Bedeutung bekommen, als ich bisher dachte.
Baby versus Bed-In ist also beim genaueren betrachten nicht nur ein kleiner Interpretationsfehler. Vielmehr verändert er den Sinn der Aussage komplett. Allerdings nicht ohne Tiefgang, wie ich finde. Die Baby-Variante hat durchaus ihren ganz eigenen Reiz und literarischen Wert. Vielleicht entscheide ich mich einfach dafür, auch weiterhin Baby zu verstehen? Mal sehen.

I wrote a poem on a dog biscuit
And your dog refused to look at it
So I got drunk and looked at the Empire State Building
It was no bigger than a nickel

This Is Our Music hat für mich einen ganz besonderen Wert. Die Scheibe ist rückblickend ein früher Vorbote für Musik, die ich heute liebe, so dass sie in meinem eigenen musikalischen Kosmos eine extrem lange Halbwertszeit besitzt. Wenn ich mir andere meiner Platten aus der gleichen Zeit ansehe, ist diese Scheibe wirklich ungewöhnlich für mich. Aber ich habe sie geliebt und tue es immer noch. Sie war (und ist) Dank ihrer elegischen und ruhigen Art immer ein treuer Begleiter beim Lesen gewesen.

Zu meiner eigenen Verteidigung möchte ich abschließend noch erwähnen, dass ich mich nie im Bus übergeben musste.

 

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