Mikrotag

Karate – Karate

Es ist verhältnismäßig früh am Morgen. Ich blicke aus dem offenen Fenster in den Innenhof. Ich sehe niemanden. Aber ich höre viel. Radio eins. Spritzendes Fett in einer Pfanne. Eine Kaffeemaschine. Kinder. Laufendes Wasser. Duschgesang. Ein klingelndes Telefon. AC/DC. Einen bellenden Hund. Nein, zwei bellende Hunde. Tauben. Nein, ein ganzes Taubengeschwader. Einen Wecker. Husten. Konversationsfetzen — nette und nicht so nette.

„Bis heute Abend!“, eine Tür knallt.

„Lass mich in Ruhe, das ist mir langsam zu blöd!“, gefolgt von einem harrschen Klirren, das entsteht, wenn Geschirr auf Geschirr trifft — in einer Spüle.

„Maaaammmaaaaaa?!“, ein kleines Mädchen beginnt zu weinen.

Zufrieden atme ich tief ein und langsam wieder aus. Dann blicke ich in den Himmel, vorbei an dem großen alten Baum, der den Innenhof bewohnt. Die Geräuschkulisse der Nachbarn wird wieder zu einem Grundrauschen. Keine Wolke ist am Himmel zu sehen.

„Das wird ein perfekter Sommertag“, denke ich und gebe meine bequeme Haltung an der Fensterbank auf, um mich ins Bad zu begeben. Es wird Zeit. Die Musikanlage ist noch vom Vorabend an und ich lege einfach die Nadel wieder auf die Platte. Start. Caffeine Or Me?1 Ich drehe lauter. Und gleich wieder leiser. Da das Telefon klingelt. Vito und Lemmi stehen schon vor der Tür. Ich verschaffe mir ein paar Minuten Zeit, indem ich sie lobe, wie pünktlich sie doch seien. Ich lege auf und zögere einen Moment, höre in mich hinein. Dann stehe ich im Bad und putze mir die Zähne. Die Tauben am Fenster und unter dem Dach sind an diesem Morgen besonders laut.

Ich fliege schon die Treppen hinunter, während hinter mir noch meine Wohnungstür schwer ins Schloss fällt. Ich fühle mich perfekt ausgerüstet. Einer der wenigen Tage im Jahr, an denen du dich nicht ärgerst, etwas anderes angezogen zu haben. Ein echter Luxus, wie ich finde. Wir holen uns noch einen Kaffee bei der netten Holländerin an der Ecke Schönhauser Allee. Dann geht es los. Zeezicht.

„Ein x-beliebiger X-Flügler.“

Vitos Wagen ist die große Ausführung des Modells „Stormwagon“ von Human Motors. Schneeweiß. Der Designer soll sich dabei an dem X-Flügler aus dem uralten Science-Fiction-Film „Star Wars“ orientiert haben. Ich finde diese Assoziation ehrlich gesagt an den Haaren herbei gezogen. Es könnte auch ein x-beliebiger Kombi sein. Ein Passat etwa. Ein x-beliebiger X-Flügler. Wir lachen und fahren durch den Sommerwind. Die Fenster sind offen. Wir verlassen die Stadt und damit die bewachte Zone. Ein elektronischer Gürtel rund um die Metropole. Die Luft fühlt sich nun noch frischer an. Die Kontrollpunkte werden immer seltener und wir immer schneller. Ich sitze hinten. Tagträumend starre ich aus dem Fenster. Am Himmel sehe ich eine Drohne oder einen Vogel, ich kann es nicht genau sagen. Vito und Lemmi unterhalten sich laut. Die Musik dröhnt. Ich verstehe kein Wort. Will ich aber auch gar nicht.

Ein lautes Klickgeräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Ich löse meinen fixierten Blick von den vorbeifliegenden Baumwipfeln — im bayrischen gibt es einen Begriff für den starren Blick ins Leere: Goaßgschau! — Der Wagen wird einmal kräftig durchgeschüttelt. Dann beschleunigt er zunehmend. Wie auf Samtpfoten. Vito macht den Wagen aus und lehnt sich zurück. Wir sind eingeklinkt. Ein beständiges Knistern und elektronisches Blubbern mit Halleffekten umgibt uns. Wir werden gescannt. Ein notgedrungenes Übel, um in das Naherholungsgebiet zu gelangen. Auf der einzigen Straße dorthin darf man schon seit einigen Jahren nicht mehr selbst fahren. Unsere Freizeit ist ihnen heilig, sagen sie. Naja, wenn sie das meinen. Ich lehne mich zwischen den beiden Sitzen hindurch nach vorne und berühre Vito und Lemmi jeweils an einer Schulter. Unsere Blicke treffen sich. Wir grinsen uns an. Nicht reden und genießen, so wie wir es abgemacht hatten.

Ich setzte mich wieder gemütlich auf den Rücksitz und lächle aus dem Fenster. Aus der Brusttasche meines Hemds nestele ich ein Kaugummi gegen den bitteren Geschmack im Mund. Dann widme ich mich wieder den Baumwipfeln und meinen vorbeifliegenden Gedanken. Etwa 20 Minuten sitzen wir glücklich schweigend in dem wie von Geisterhand gesteuerten Stormwagon, als auf dem orangefarbenen Digital-Display des Audioradios die Information erscheint: Scan OK!

„Ein Blick in eine zeitliche Enklave
im kontrollierten Jetzt.“

Kurz darauf kündigen Interferenzen weiterführende Informationen an. Eine Stimme meldet sich auf Radiofrequenz 88,3. „Ihr Fahrzeug wurde für die Ausfahrt LS3 autorisiert, 3 männliche Insassen, Freizeitaufenthalt bis Sonnenuntergang, wir wünschen Ihnen viel Spaß!“

„Nicht lachen“, erinnerte ich mich selbst und presste meine Lippen künstlich nachdenklich aufeinander. Respektlosigkeit unterdrückend.

Wir klinken aus. Vito startet ein wenig hektisch den Motor, der kurz kräftig aufheult. Dann kuppelt er aus und wir rollen, wieder etwas weniger fremdgesteuert, die Ausfahrt LS3 hinunter. Unten angekommen eröffnet sich uns ein toller Blick ins weite Tal. Ein Blick in die Vergangenheit. Ein Blick in eine zeitliche Enklave im kontrollierten Jetzt. Uns enthuschen ein paar willkürliche Wows, Huihs, Hopplas… Naive Begeisterungsbekundungen.

Wir parken am Straßenrand und gehen zu Fuß in den Wald. Nach 15 Minuten schimmert es blau-grün durch die Bäume und wir erreichen unser Ziel. Freie Sicht auf den See! In dem kleinen Hafen am nord-östlichen Seeufer müssen wir uns abermals scannen lassen, diesmal an unseren Handgelenk-Implantaten. Die Sonne brennt mittlerweile unerbittlich aus dem Zenit. Doch der schattenspendende Wald liegt hinter uns und wir fahren einfach hinaus aufs Wasser. Das war das Ziel. Unser kleines Titan-Boot durchtrennt feinsäuberlich die kleinen Wellen. Das Sonar bedeutet uns, dass es tiefer wird und wir beschleunigen, bis uns der Fahrtwind Kühlung bringt. Gefesselt blicken wir in die Ferne, die Haare waagerecht im Wind. Glücklich, Sonnenbrillen auf den Nasen zu haben. Lemmi nimmt Fahrt raus und programmiert den Bordcomputer. Erstmal Schwimmen gehen. Doch das Wasser ist erstaunlich kalt. Und die Wellen werden plötzlich stärker. Echter Seegang. Dunkle Wolken ziehen rasend schnell am Himmel auf. Stürmisch. Kein Land ist mehr in Sicht. Nur noch wir und das Boot. Eine Ente ist ebenfalls in die überraschenden Fluten geraten und wird unsanft gegen das Metallboot gewirbelt. Aber sie überlebt und schafft es, sich in die Lüfte zu hieven. Neidisch blicke ich ihr hinterher, während ich immer wilder hin und her geschaukelt werde. Ich friere.

„Zurück aufs Boot!“, ruft Vito. 

„Wie denn, du Vogel?“, erwidert Lemmi halb wütend, halb lachend.

Mir hat es ehrlich gesagt, die Sprache verschlagen. Ich versuche einfach zum Boot zu schwimmen. Schweigend. Unter großen Anstrengungen klettern wir wieder an Bord. Meine Fingerkuppen und Lippen sind blau gefroren. Wir ruhen aus, während unsere Hightech-Nussschale von Welle zu Welle hüpft. Doch der Sturm lässt nach. Über uns bricht die dunkelgraue Wolkendecke auf und die Sonne streckt frech ihre Strahlen hindurch in unsere Welt.

„Alter, was war das denn bitte?“, fragt Lemmi laut und fügt fragend hinzu: „War das echt?“

„Das war vor allem knapp“, ergänze ich flapsig.

„Eine Art Schutzschild vor der liebestollen,
schwimmenden Partymeute.“

Am Horizont taucht eine Insel auf, die sich schnell nähert. Als wir nah genug an ihren Ufern sind, hören wir Stimmen, Trommeln, Rasseln und sehen Mensch ausgelassen am Strand tanzen. Uns ist diese Veranstaltung nicht ganz geheuer, zumal sie bereits begonnen haben, nach uns zu winken und rufen. Lemmi winkt zurück und wir bedeuten ihm, es zu unterlassen.

„Warum?“, fragt er lächelnd und verständnislos.

„Weil sie sonst zu uns rüber schwimmen. Siehst Du? Die ersten sind bereits im Wasser!“, erwiderten Vito und ich.

Und tatsächlich, aus einem uns unbekannten Grund hatten wir ihr Interesse geweckt. Immer mehr Menschen der Strandgesellschaft springen auf und rennen laut jauchzend ins Wasser. Aufgewühltes weißes Nass. Sie schwimmen hinaus. Und ehe wir uns versehen, erreichen die ersten bereits unser Boot und versuchen sich hinauf zu hangeln.

„Hey Freunde“, ruft einer.

„Lasst uns kuscheln!“, ein anderer.

„Wir fahren gemeinsam ans Ende der Welt“, ruft ein Mädchen von etwas weiter weg. Das Schwimmen strengt sie sichtlich an.

„Lass uns auftauchen,
ich muss auch mal pissen“

Dann hören wir plötzlich Lemmi mit klarer und bestimmter Stimme sagen: „Jungs, passt auf Eure Finger auf!“ Er drückt den blau leuchtenden Knopf auf der Steuerkonsole. Ein heulendes Summen setzt ein und das Wasser rund ums Boot beginnt zu schäumen. Eine Art Schutzschild vor der liebestollen, schwimmenden Partymeute. Wie von Geisterhand, schiebt sich unter Begleitung eines mechanischen Geräusches, eine Glasschicht aus den Außenwänden des Titanbootes und schließt sich über uns. Das Boot ist nun völlig geschlossen. Ein lautes Zischen. Druckausgleich. Wir tauchen ab. Einige Hände tatschen noch auf die Glaskuppel, dann sind wir vollends unter Wasser. Lemmi schaltet die Scheinwerfer an, denn das Gewässer ist fürchterlich finster. Eine orangefarbene Badehose mit 70ies Muster treibt vorsichtig vorbei. Repeating Pattern. Schleichfahrt. Wow. Geil. Unglaublich. Wir sind von der Welt begeistert, die wir gerade neu erobern. Fische. Schuhe. Fäkalien. Krebse. Strampelnde menschliche Beine von unten. Tauchende Hunde. Ins Wasser pinkelnde Männer. Igitt.

„Lass uns auftauchen, ich muss auch mal pissen!“, sage ich.

„Wir haben auch kaum noch Sauerstoff, also zurück an die Oberfläche“, stimmt mir Vito zu.


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Lemmi drückt auf den mittlerweile blau blinkenden Knopf auf der Steuerkonsole und leitet damit den automatischen Auftauch-Vorgang ein. Zurück an der Oberfläche müssen wir uns kurz verorten. Wir haben die Insel einmal halb umfahren. Der Tanzstrand liegt nun also genau auf der anderen Seite des Eilands. Wir nähern uns dem Ufer, das mit starken, ins Wasser ragenden Baumwurzeln, übersäht ist. Die Glaskuppel unseres Bootes öffnet sich. Ich springe an Land und suche ein geeignetes Plätzchen zum Pinkeln. Der Waldboden ist matschig und die zahlreich rumliegenden Tannenzapfen schmerzhaft an den nackten Füßen. Plötzlich bemerke ich, dass ich nicht alleine bin. Nicht weit von mir entfernt sehe ich durch die Bäume hindurch ein kopulierendes Pärchen auf dem Waldboden liegen, nackt. Ich blicke mich um. Und siehe da, es ist nicht das einzige Pärchen, im Akt begriffen. Sechs, sieben, oder acht liebestoll Vereinte zähle ich. Ich muss schmunzeln. Gleichzeitig kneife ich nachdenklich die Augen zusammen. Hä? 

„Das Urinieren kann ich hier vergessen“, denke ich mir und begebe mich schnell wieder zurück zum Boot, hippiesk durch den Wald hüpfend.

„Schnell weg, hier sind sie auch!“, rufe ich Lemmi und Vito zu, springe auf das Boot und wir legen ab.

Die Ente aus dem Sturm landet auf dem Bug unseres schmucken Titanbootes. Ich werfe ihr ein Stück vom Käse-Gurken-Sandwich aus der integrierten Picknick-Box zu. Sie verzehrt es mit Wonne. Noch eine Ente landet. Noch eine. Und noch eine. Bald sind es etwa 30 Enten, die auf unserem Boot Platz genommen haben. Wir holen die restlichen Sandwiches hervor. Und am Himmel nähert sich ein riesiger Fomationsflug. Aaaarrggghhh. Dieses Sandwiches scheinen magisch anzuziehen.

„Achtung, volle Fahrt voraus!“, ruft Lemmi.

Das Boot beschleunigt grandios. Der Entenschwarm setzt zur Landung an. Ich werfe die Sandwiches über Bord. Federn. Freie Fahrt.

Am Hafen angekommen, hat die Dämmerung bereits eingesetzt. Wir lassen uns wieder scannen und gehen zurück zum Wagen. Rechtzeitig vor Sonnenuntergang klinken wir uns wieder an der Auffahrt LS3 ein und werden aus dem Naherholungsgebiet transportiert. Schweigen. Scan OK

Als wir wieder die bewachte Zone erreichen, ist es bereits stockfinster. Wir sind erschöpft. Wir waren weit draußen. Es fühlt sich an, als würden wir von einer Weltreise zurückkehren. Und wir haben Hunger. Trotz milder Sommernacht und 28 Grad sind durchgefroren. Pho Bo erscheint mir genau richtig zu sein. Eine schöne heiße Nudelsuppe. Und so ist es auch. Als die Suppe kommt, freue ich mich diebisch. Vito und Lemmi essen Sushi.

„Könnt’ ich nicht!“, denke ich und meine auf der Suppenoberfläche ein kleines titanfarbenes Boot zu sehen, wie es die Nudeln und Sprossen umschifft.

„Die Irgendwie-Parallele.“

Wir verabschieden uns voneinander, als wenn es ein ganz normaler Tag gewesen wäre. Zu Hause angekommen, höre ich als erstes das Knacken der Nadel in der Endlosrille. Und mir kommt der Gedanke einer Irgendwie-Parallele zu meinem Tag. Doch ich verdränge den Gedanken schnell wieder, denn das Ergebnis wäre traurig: Das Leben ist ein Loop.

Ich hatte einfach nur vergessen, den Plattenspieler und die Anlage auszuschalten. Mehr nicht. Nichts großes. Und ich hatte einen wundervollen Tag, den will ich mir nicht verderben. Ich nehme die Nadel des Plattenspielers und lege sie auf Song 2, Seite A – If You Can Hold Your Breath:

KS_6
Meine Notizen auf der Hülle.

„This beer is wine when you’ve got to have a good time
If you drink it all with me we’ll remember everything
Hold on tight we’ll go for a ride tonight
Head out to walden pond down and down and down and down the log

Have a party on the shore and you can swim across
If you can hold your breath you can touch the sand with your hand
This beer is wine when you’ve got to have a good time
If you drink it all with me we won’t know the difference ‚til the morning“

Es ist verhältnismäßig früh am nächsten Morgen. Ich blicke aus dem offenen Fenster in den Innenhof. Ich sehe niemanden. Aber ich höre viel…

„Hey! Sugar!“

1 So wird das Debütalbum von Karate zufälligerweise zum Soundtrack dieses Tages.

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